Können Sozialgerichte über Krankengeld entscheiden?

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Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 20.10.2016, 14:56

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Was sind denn die rechtlichen Grundlagen für Prüfungen der Kassen bei den Ärzten?

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Joebo
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Beitrag von Joebo » 20.10.2016, 16:47

Welche Grundlage verbietet es? Es ist keine "Prüfung", vielmehr eine Beratung/Aufklärung aufgrund unplausibler Daten. Der Arzt ist keineswegs verpflichtet auch nur einen Finger krumm zu machen. Wenn diese Daten jedoch ebenfalls als unplausibel ansieht, korrigiert er, wenn nicht, dann nicht.

Czauderna
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Beitrag von Czauderna » 20.10.2016, 19:22

Hallo Anton,
das sehe ich genau so - das sind keine Prüfungen oder Kontrollen.
Tauchte nicht irgendwo mal der Begriff "taktieren" auf - ich weiß gar nicht mehr wer den , natürlich in einem anderen Zusammenhang, ins Spiel gebracht hatte - grins.
Gruss
Czauderna

Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 21.10.2016, 07:35

Keine "Prüfung" - einverstanden!

Was rechtfertigt dann den Austausch über Patienten-Daten jenseits des Arzt-
geheimnisses / Datenschutzes?

"Aufklärung / Beratung" i. S. der §§ 14 / 15 SGB I kommen hier nicht zur
Anwendung. "Taktieren" ist kein Begriff aus dem SGB.
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clh
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"Falsch"-Codierung

Beitrag von clh » 31.10.2016, 01:29

Guten Morgen,

sind die Kunden der Krankenkassen bzw. die Versicherten denn nicht auch zu informieren, dass falsche Codierungen stattfanden? Evtl. bestehende Berufsunfähigkeits- und/oder Lebensversicherungsverträge sind u. U. heikel. Oder seh ich das zu krass?

Vielen Dank und frdl. Grüße

vlac
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Beitrag von vlac » 31.10.2016, 02:33

Hallo,

zunächst einmal muss man festhalten: Wenn eine Versicherung, bei deren Antragsstellung Gresundheitsfragen zu beantworten waren, bereits abgeschlossen wurde, und diese Gesundheitsfragen nicht wahrheitsgemäß beantwortet wurden, dann wird man außer zu hoffen wohl nichts mehr machen können.

Womit ich bei der Frage bin: Was ist Wahrheit überhaupt, in diesem Spannungsfeld zwischen Krankheit, Abrechnung, zwischen gesetzlicher und privater Versicherung? Zur Zeit wird, gerade wenn es um die Berufsunfähigkeitsversicherung geht, sehr viel gemahnt, gewarnt. Und ja: Man sollte sich Gedanken machen, wie man auf die Fragen im Antrag antwortet, aber dieses Bewusstsein sollte nicht erst im Zuge der Upcoding-Debatte entstanden sein; dass manche Versicherungen selbst kleinste Unregelmäßigkeiten bei der Antragsstellung dazu nutzen, um der Leistungspflicht zu entgehen, ist schon seit den 90er Jahren bekannt.

Im Zusammenhang mit dem Upcoding muss man sich unbedingt bewusst sein, dass Abrechnungsdaten und Patientenakte zwei verschiedene Dinge sind. Im Ideallfall sollte sich beides decken, und nur das abgerechnet werden, was auch tatsächlich an Leistungen erbracht worden ist. Beim Upcoding werden bei der Abrechnung aber auch unter Umständen Diagnosen angegeben, die schwer wiegender sind, als das, was tatsächlich behandelt wurde - neben den legitimen Bestrebungen, Ärzte dazu zu bringen, bei Patienten mit Dauerdiagnosen auch diese Diagnosen anzugeben.

Ich habe in meinem Berufsleben schon sehr viele Patientenakten gesehen, und es fällt, nicht erst seit gestern, immer wieder auf, dass die ICD 10-Codes, wie sie auf den "Patientenquittungen" beispielsweise angegeben sind, entweder vollständig aufgebläht sind, oder aber wichtige Diagnosen nicht angegeben werden. So hatte ich beispielsweise einen Fall bei dem seit 15 Jahren Depressionen angegeben wurden, obwohl seit 14 Jahren keine Depression mehr besteht.

Dementsprechend kann man auf Grund dieser Daten keine Aussage über den tatsächlichen Gesundheitszustand des Patienten treffen; dazu braucht man die eigentliche Patientenakte: Also entweder die Karteikarte (die manche Ärzte immer noch führen) oder einen Ausdruck aus der Datei, in der die tatsächlichen Diagnosen, sowie die dazu gehörigen Anamnesen, Untersuchungen und Überweisungen vermerkt sind. Jeder Arzt ist dazu verpflichtet, eine solche Akte zu führen, und es ist eine Straftat, eine Patientenakte zu verfälschen.

Jemand, der eine Versicherung beantragt, und dabei nur nach der "Patientenquittung" geht, die allerdings ohnehin nur einen Teil des Erhebungszeitraumes umfasst, kann sein blaues Wunder erleben: Die Patientenquittung kann "sauber" sein, also nur unverfängliche Diagnosen umfassen, und ich habe nun auch schon einige Schlaumeier im Netz gelesen, die ausgedeutet haben, dass diese Daten ja nur für gewisse Zeiträume von den Krankenkassen beauskunftet werden, und dass die KVen die Daten in der Regel vier Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem sie gespeichert wurden, löschen. Alles kein Problem also, sagen diese Schlaumeier; nach ein paar Jahren könne die Versicherung eh nichts mehr nachweisen.

Pustekuchen. Der Arzt muss die Patientenakte zwingend für mindestens zehn Jahre aufbewahren, und so wie eine geupcodete Patientenquittung eine saubere Akte übertünchen kann, kann es dann passieren, dass die Versicherung die Patientenakte vom Arzt anfordert, und dann sieht, wie es tatsächlich war. Man kann sich dann auch nicht mehr damit rausreden, dass die Quittung doch sauber war, wenn der Versicherer mit Arglist kommt, weil in der Akte die Depressionen und die Diabetes drin stehen, mal überspitzt gesagt, denn auch wenn man mal den Schnupfen vergessen kann, oder den blauen Montag, so sind das doch Sachen, die man nicht vergisst

Aber zurück zur Upcoding-Debatte. Im Umlauf sind derzeit auch sehr wilde Behauptungen. So heißt es in einem Bericht der Welt am Sonntag, Dienstleister würden Patienten abtelefonieren, um sie zum Arzt zu lotsen, der ihnen dann die Diagnose stellt, und das Ganze sei sogar nicht mit großen Kosten verbunden, weil ja mangels Krankheit nichts verschrieben werden müsse.

Ich persönlich kann mir das nicht vorstellen, weil ich mir kaum darstellen kann, dass sich jemand freiwillig zum Arzt begibt, um eine Krankheit diagnostiziert zu bekommen, die er nicht hat. Aber was, wenn der Arzt einfach irgendwas in die Akte hinein schreibt - also nicht nur Diagnosen abrechnet, sondern sie auch in der Patientenakte vermerkt?

Zunächst einmal wäre es so, dass ein geschultes Auge die Unregelmäßigkeit erkennen kann. Denn in aller Regel würde zur Diagnose die Anamnese fehlen, und es würden die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen fehlen. Dia Anamnese kann man vielleicht noch erfinden, und auch pro forma ein Rezept und / oder eine Facharztüberweisung ausfertigen, damit es so aussieht, als würde was gemacht. Aber das macht man einmal, vielleicht zwei Mal. Denn man müsste dann auch rein schreiben, dass der Patient die Medikamente nicht nimmt, nicht zum Facharzt geht. Aber dann immer und immer wieder?

Viele, die aktuell über die Gesundheitsfragen sprechen, und dabei dem Patienten schlechte Karten attestieren, scheinen sich nicht bewusst zu sein, dass zum einen nicht die Abrechnungsdaten, wie gesagt, das Maß der Dinge sind, sondern die Patientenakte. Und das Manipulationen an der Patientenakte nicht nur dem Patienten, sondern auch einem geschulten Auge auffallen würden. Solche Manipulationen sind meiner Erfahrung nach sehr, sehr, sehr selten.

Eine Versicherung kann auch nicht einfach ankommen, und sagen, dass der Arzt diese oder jene Diagnose abgerechnet hat, und man deshalb nicht zahlt, wenn die Patientenakte das nicht bestätigt. Der Antragsteller wird nur nach tatsächlichen Erkrankungen in einem bestimmten Zeitraum gefragt.

GerneKrankenVersichert
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Beitrag von GerneKrankenVersichert » 31.10.2016, 12:32

Ich setze die Diskussion mal hier hier fort, um den Thread nicht weiter mit Fachchininesisch zuzumüllen, das dem Threadersteller nicht weiterhilft.

http://www.krankenkassenforum.de/postin ... te&p=82158
Anton Butz hat geschrieben:.

Zu Kranken- und Verletztengeld gibt es viele Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. So kommt es sowohl für den Anspruch auf Verletztengeld wie auch für Krankengeld nach den gesetzlichen Bestimmungen auf die Arbeitsunfähigkeit und deren ärztliche Feststellung an:

Verletztengeld:
Verletztengeld wird erbracht, wenn Versicherte infolge des Versicherungsfalls arbeitsunfähig sind.
Verletztengeld wird von dem Tag an gezahlt, ab dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird.

Krankengeld:
Versicherte haben Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht.
Der Anspruch auf Krankengeld entsteht von dem Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit an.

Die identischen Begriffe werden jedoch unterschiedlich interpretiert. Während sich die Rechtsprechung zum Verletztengeld am Gesetz orientiert, pfeift die Rechtsprechung zum Krankengeld auf die Rechtsgrundlagen und (er-) fand stattdessen willkürliche Konstruktionen. Ausgehend von der Dauer der jeweiligen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und dementsprechend mehreren ärztlichen Feststellungen von Arbeitsunfähigkeiten etablierten sich abschnittsweise Krankengeld-Ansprüche entsprechend Bescheid-unabhängigen abschnittsweisen Bewilligungen („illegaler Gesetzesselbstvollzug“).
Das hat weniger mit der Formulierung des Anspruchs als mit der gesetzlichen Bestimmung des Endes zu tun. Im Gegensatz zum SGB V definiert das SGB VII dies ganz klar:
§ 46 SGB VII
(3) Das Verletztengeld endet

1.
mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit oder der Hinderung an einer ganztägigen Erwerbstätigkeit durch eine Heilbehandlungsmaßnahme,
2.
mit dem Tag, der dem Tag vorausgeht, an dem ein Anspruch auf Übergangsgeld entsteht.

Wenn mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen ist und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erbringen sind, endet das Verletztengeld

1.
mit dem Tag, an dem die Heilbehandlung so weit abgeschlossen ist, daß die Versicherten eine zumutbare, zur Verfügung stehende Berufs- oder Erwerbstätigkeit aufnehmen können,
2.
mit Beginn der in § 50 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches genannten Leistungen, es sei denn, daß diese Leistungen mit dem Versicherungsfall im Zusammenhang stehen,
3.
im übrigen mit Ablauf der 78. Woche, gerechnet vom Tag des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an, jedoch nicht vor dem Ende der stationären Behandlung.
Da musste kein von dir nicht anerkanntes Richterrecht geschaffen werden.

Das mit dem Dauerverwaltungsakt hatte wir übrigens ziemlich am Anfang des Threads. Es wurde kein Verwaltungsakt über die Bewilligung des Verletztengeldes erlassen.

clh
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Falsch-Codierung

Beitrag von clh » 31.10.2016, 22:51

Herzlichen Dank, vlac.
:wink:

Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 01.11.2016, 11:50

Ja GKV,

in diesem Thread geht es allgemein darum, dass die Sozialgerichtsbarkeit nicht nach geltenden gesetzlichen Bestimmungen über das sozialrechtliche
Krankengeld entscheidet. Dazu diskutiere ich gerne hier weiter:
GerneKrankenVersichert hat geschrieben:
Das hat weniger mit der Formulierung des Anspruchs als mit der gesetzlichen Bestimmung des Endes zu tun.
Irrtum GKV - die gesetzlichen Bestimmungen sind zum Ende des Krankengeld-Anspruchs genau so eindeutig wie zu allen anderen Sozialleistungen.

GerneKrankenVersichert hat geschrieben:
Da musste kein von dir nicht anerkanntes Richterrecht geschaffen werden.
Tatsächlich ist es nach meiner Meinung kein „Richterrecht“ was flächendeckend zur Umgehung zentraler Bestimmungen der Sozialgesetzbücher I und X
führt.

GerneKrankenVersichert hat geschrieben:
Es wurde kein Verwaltungsakt über die Bewilligung des Verletztengeldes erlassen.
In Blikck in § 33 Abs. 2 SGB X fördert die Rechtskenntnis:
Ein Verwaltungsakt kann schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden.
https://dejure.org/gesetze/SGB_X/33.html

Das hat sogar der 1. BSG-Senat richtig erkannt:
Krankengeld wird in gleicher Weise wie andere Sozialleistungen durch Verwaltungsakt gewährt, einerlei, ob darüber ein förmlicher Bewilligungsbescheid ergeht oder die Bewilligung konkludent durch Auszahlung der Leistung erfolgt

BSG-Urteil vom 25.03.2003, B 1 KR 36/01 R
https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/es ... sensitive=

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GerneKrankenVersichert
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Beitrag von GerneKrankenVersichert » 01.11.2016, 13:39

Kleiner Denkanstoß: Knackpunkt ist die Dauerwirkung, nicht der Verwaltungsakt. Na, klingelt's?

Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 01.11.2016, 14:33

Hallo GKV,

bevor wir zum Knackpunkt "Dauerwirkung des Verwaltungsaktes" kommen:

Sind wir jetzt einig, dass die Bewilligung des Verletztengeldes (wie des Krankengeldes)
ein Verwaltungsakt ist? Oder gilt eine deiner früheren Meinungen weiter, z. B. die Letzte:
GerneKrankenVersichert hat geschrieben: Es wurde kein Verwaltungsakt über die Bewilligung des Verletztengeldes erlassen.
Gruß
Anton

GerneKrankenVersichert
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Beitrag von GerneKrankenVersichert » 01.11.2016, 15:21

Ich korrigiere mich: Es wurde kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung erlassen.

Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 01.11.2016, 16:39

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Und wie ist deine Begründung unter Berücksichtigung dieses Satzes des BSG
im Urteil vom 26.10.1998, B 2 U 35/97 R:
Bei der Bewilligung von Verletztengeld durch die AOK im Namen des Beklagten,
das sich über eine gewisse zeitliche Dauer erstreckt, handelt es sich um einen Ver-
waltungsakt mit Dauerwirkung
(BSGE 74, 287, 289 = SozR 3-1300 § 48 Nr 33)
https://www.jurion.de/Urteile/BSG/1998- ... -U-35_97-R
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Rossi
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Beitrag von Rossi » 02.11.2016, 15:46

Jooh,

In dem BSG-Fall wurde für die Zeit vom 19. April bis 26. Juni 1990 Krankengeld gewährt. Also VA mit Dauerwirkung für die entsprechende Dauer.

Jenes haben wir im ALG II auch, d.h. für 6 Monate (also Dauerwirkung), im SGB XII, d.h. 12 Monate (also Dauerwirkung).

Nicht zu verwechseln mit "dauerhaft".

Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 02.11.2016, 22:49

Hallo Rossi,

nicht "Kranken-", sondern "Verletzten"geld.

Zwischen "Dauerwirkung" und "dauerhaft" liegt ein sehr weites Feld.
Vermutlich bist du der Erste, der beide Enden gleichzeitig sieht und bewusst
trennt.

Gruß
Anton

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