Sensomotorische Einlagen für Kinder

Welche Leistungen werden von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt?

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vlac
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Beitrag von vlac » 22.11.2013, 15:46

Hallo,

ich befürchte, dass die Aussagen von Kim67 so nicht korrekt sind. Es ist durch die umfangreiche deutsche Krankenkassenlandschaft hindurch Standard, bei Verordnungen von sensomotorischen Einlagen die medizinische Notwendigkeit in jedem Einzelfall prüfen zu lassen; dazu haben die Krankenkassen das Recht. Bei den sensomotorischen Einlagen fallen diese Prüfungen in der Regel negativ aus, weil der medizinische Nutzen schon im Allgemeinen im besten Fall nicht nachgewiesen ist, und im konkreten Fall so gut wie nie zu belegen ist; in einigen wenigen Fällen haben Krankenkassen auf Grund des Gerichtsurteils aus dem Jahr 2003 sensomotorische Einlagen übernommen, weil sie als Teil einer anerkannten naturwissenschaftlichen Behandlungsmethode eingesetzt worden sind. Aber auch hier wird grundsätzlich genauer hingeschaut, ob in solchen Fällen nicht versucht wird, ein "Schlupfloch" in der Gesetzgebung zu nutzen, dass bis heute nicht geschlossen worden ist.

Denn: 2003 hat ein Sozialgericht zunächst einmal fest gestellt, dass ein Hilfsmittel, dass nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist, verordnet werden kann, wenn es im Rahmen einer anerkannten Behandlungsmethode eingesetzt wird. In der Folge wurde bei den sensomotorischen Einlagen dann immer wieder behauptet, sie würden im Rahmen einer Behandlung nach Bobath oder Vojta eingesetzt. Das wiederum hat dazu geführt, dass Krankenkassen prüfen ließen, ob das tatsächlich so ist, und welchen Stellenwert dieses Hilfsmittel in der Behandlung hat - und ob eine solche Behandlung tatsächlich stattfindet.

Das Bundessozialgericht hat allerdings in den darauf folgenden Jahren die rectliche Lage konkretisiert, und fest gestellt, dass Hilfsmittel schon im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt sein müssen, bevor sie verordnet werden können. Und dann wurde dort fest gestellt, dass die Aufnahme ins Verzeichnis vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen (@Poet: Nicht der Gemeinsame Bundesausschuss) nicht abgelehnt werden kann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. So gilt der geforderte Nachweis des therapeutischen Nutzens als erbracht, wenn ein Hilfsmittel, dass zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden soll, den gleichen Zweck erfüllt, wie ein herkömmliches Hilfs- oder Verbandmittel und im Rahmen einer anerkannten Behandlungsmethode eingesetzt werden soll. Außerdem muss die Sicherheit des Hilfsmittels nach gewiesen worden sein.

Das aber sind nur die Bedingungen, die an die Aufnahme eines Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis gestellt werden. Es bedeutet nicht, dass dieses Hilfsmittel dann auch kommentarlos von den Krankenkassen bezahlt werden muss: Sie dürfen prüfen lassen, und sie dürfen auf ein herkömmliches, günstigeres Hilfsmittel verweisen, wenn der therapeutische Mehrwert nicht erkennbar ist.

Diese Urteile sind also keine Freifahrtscheine.

Was mich zu etwas bringt, was mich persönlich erheblich stört. Mir fällt immer wieder auf, dass vor allem Orthopäden die sensomotorischen Einlagen in den wärmsten Tönen anpreisen (, dann gerne auch den dezenten Hinweis hinterher schieben, beim Sanitätshaus im ersten Stock gebe es ein besonders gutes Paar) und dann denn Leuten sagen, sie sollen gegenüber der Krankenkasse auf diese Urteile verweisen, wenn sich die Kasse quer stellt - wohlwissend, wie mir schon Orthopäden eingestanden haben, dass dies für die Betroffenen damit ausgeht, dass sie die Einlagen erst einmal selbst zahlen, und dann auf den Kosten sitzen bleiben.

Auch wenn ich persönlich nur Zugang zu gemessen an der Gesamtzahl der deutschen Orthopäden relativ wenigen davon habe, deutet die hohe Zahl an Verweisen auf diese Urteile auf Orthopäden-Homepages darauf hin, dass dies eine recht weit verbreitete Strategie ist.

Man suggeriert den Menschen, etwas dringend zu benötigen, mit teils absurdesten Behauptungen davon, was diese Dinger alles besser machen können, man baut ein Feindbild auf (Leistungskürzungen!), man bietet ein angeblich sicheres Schlupfloch an (Urteil!), und kreiert damit die Bereitschaft, erst einmal selbst in die Tasche zu greifen, denn gerade wenn es um die eigenen Kinder geht, gerade wenn man Monate lang auf den Termin beim In-Ortho gewartet hat, den die Kindergärtnerin in den wärmsten Tönen empfohlen hat, nachdem sie den bestürzten Eltern ihre Diagnose mitgeteilt hat, die natürlich besser ist, als die von Ärzten oder Therapeuten, weil sie ja praktisch mit den Kindern zu tun hat, und diese Akademiker den ganzen Tag nur Bücher lesen, um zwischendrin mal einen schnellen Blick aufs Kindle zu werfen, gerade also wenn dies alles vorliegt, und dieser Megasatz irgendwann zu Ende ist, wird man kaum kritische Fragen stellen.

In diesem System kommt vieles zusammen: Wirtschaftliche Erwägungen und Abhängigkeiten von Leistungserbringern, die Erwartungen von Patienten oder ihren Eltern, gute Ratschläge von Bezugspersonen, die wiederum eigene Erwartungen mit bringen, und dieman auf Grund sozialer Strukturen nicht hinterfragt.

Zunächst einmal sind die Krankenkassen natürlich auch die Hüter über unsere Geldbeutel. Ich persönlich beispielsweise möchte nicht irgendwann mein komplettes Einkommen direkt an den Poeten überweisen müssen.

Noch viel mehr als das sollte man aber auch das, was von Leistungserbringern gerne als Leistungskürzungen und -beschränkungen verdammt wird, durchaus als Qualtitätsprüfung betrachten. Denn wenn man sich das deutsche Gesundheitssystem genauer anschaut, dann haben die Leistungserbringer sehr, sehr freie Hand, und genießen darüber hinaus auch noch ein gigantisches Vertrauen der Menschen, ohne dass die Menschen wirklich etwas über den Leistungserbringer wissen: Wer weiß schon, was der Arzt genau studiert hat? Wie oft er sich wirklich fortbildet, und in welchen Bereichen? Wie findet man raus, ob er überhaupt studiert hat? Ob er nicht irgendwo auf der roten Liste gelandet ist? Welche wirtschaftlichen Abhängigkeiten, beispielsweise mit anderen Leistungserbringern, er hat? Das sind Dinge, die der Normalmensch nicht weiß. Und dennoch vertraut man diesen Leuten.

Und selbst wenn ein Arzt nach bestem Wissen handelt (was meist der Fall ist): Seine Informationen können, sind es sogar sehr oft, falsch oder nicht belegt sein. Kaum ein Arzt hat die Zeit dazu, Studien kritisch zu hinterfragen.

Gerade vor dem Hintergrund der wachsweichen Bestimmungen in Bezug auf Hilfsmittel, die zwar zur Behandlung eingesetzt werden, aber die auch sehr oft keine ausreichende Evidenz vorweisen können, ist es wichtig, dass es irgendwo eine Stelle gibt, die darauf achtet.

Bedauerlich finde ich, dass es mittlerweile Hilfsmittel gibt, bei denen die Krankenkassen weitgehend auf solche Prüfungen verzichten. Damit ist von der Eintragung ins Hilfsmittelverzeichnis über den verordnenden Arzt jeder Kontrollmechanismus außer Kraft gesetzt, bevor solche Hilfsmittel beim Patienten ankommen.

ratte1
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Beitrag von ratte1 » 22.11.2013, 22:36

Hallo vlac,

danke für die präzise, sachliche und kluge Darstellung.

MfG
ratte1

GerneKrankenVersichert
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Beitrag von GerneKrankenVersichert » 22.11.2013, 22:55

dem schließe ich mich an

CiceroOWL
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Beitrag von CiceroOWL » 23.11.2013, 10:34

Eine wirklich sehr gute Darstellung. Danke.

Czauderna
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Beitrag von Czauderna » 23.11.2013, 13:35

Hallo,
es freut mich wirklich dass wir hier mit Vlac einen ausgesprochenen Experten zur Verfügung haben, der mit seiner Sachlichkeit und seiner Sachkenntnis eine große Bereicherung dieses Forums ist - danke auch von meiner Seite für diesen Beitrag.
Gruss
Czauderna

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